|
Frankfurter Zeitung
81. Jahrgang, Nr. 365-366 vom 4. November 1936 (Mittwoch)
„Goethe: Eine Feier und ein Bild“ von Nikolas Benckiser und Ernst Beutler, Feuilleton, S. 12
„Das Jubiläum in Rom. Bei der Zweitausendjahrfeier für Horaz vor einem Jahre unternahm eine Gruppe frommer literarischer Pilger eine mehrtägige Reise in den Fußstapfen des Dichters, legte die gleichen Tagesstrecken zurück, übernachtete an den gleichen Stellen, und suchte sich so seine Eindrücke von der Landschaft, die Horaz bereist hatte, zu verlebendigen. Wer am 29. Oktober des Jahres 1936 auf demselben Wege hätte in Rom einziehen wollen, auf dem Goethe vor 150 Jahren das heißersehnte Ziel erreichte, der würde es nicht leicht haben, sich vorzustellen, wie ´“diese Hauptstadt der Welt“´ sich damals vor den ungeduldigen Augen des Dichters aus der Campagna erhob. Die Bergsilhouetten, die Horaz sah, mögen sich über zwei Jahrtausende gleich geblieben sein; für eine Stadt sind Jahrhunderte mehr als Jahrtausende für eine Landschaft., Von dem etwas ungeordneten, wirren Platz vor dem Ponte Molle aus würde der Pilger heute zur Rechten die mamorglänzenden Riesenanlagen des Sportforums gewahr werden; ein wenig weiter tiberabwärts die im Bau befindliche Brücke erkennen, die den viel zu schmal gewordenen Ponte Molle entlasten soll. Drüben stehen wie die Behausungen eines Termitengeschlechtes riesige moderne Miethäuser, zwischen denen sich krachend und lärmend eine eigentlich noch ins 19. Jahrhundert gehörige Trambahn schlängelt; und diese Mischung von 20. und 19. Jahrhundert würde ihn bis zur Porta del Popolo begleiten. Vielleicht würde der fromme Pilger nach alledem mit Goethe, doch in anderem Sinne, sagen, dass er nur unter der Porta del Popolo sich gewiß sei, ´“Rom zu haben“´. Über der Stadt aber würde noch vom Tag vorher die Atmosphäre der großen politischen Aufmärsche und Feiern hängen, die zum Jahrestag eines anderen Marsches auf Rom abgehalten wurden…
Vergebliches Bemühen, auf diese Art das Erlebnis der Vergangenheit zu erwecken! Man brächte so nichts als einen Sack voll Stichproben mit nach Hause, aus denen man ein hinlänglich vollständiges Bild der Dinge zusammenstellen könnte, die in diesen 150 vergangenen Jahren in das menschliche Leben eingetreten sind und es zum großen Teil bestimmen. Ja, man könnte zu dem trügerischen Schluß kommen, dass das Erlebnis jener Romreise für uns nichts mehr bedeute. Indessen, wir wissen zu wohl, dass dem nicht so ist. Die Italienreise, die Auseinandersetzung mit dem, was ´“Rom“´ für Goethe bedeutete, ist unvergänglicher Bestandteil der deutschen Kulturgeschichte und des fortlebenden deutschen Geistes. Heute, da die Italienreise ein Stück Geistesgeschichte ist, kann man Goethe auf ihr um so eher begleiten und verstehen, ohne sich dazu an die sichtbare Welt der Erscheinungen anzuklammern. Wir wissen, dass Goethe vieles in Italien überhaupt kaum sah, dass sich den Blicken einer späteren, romantischen Generation in erster Linie aufdrängte. Es kommt viel weniger auf das an, was man in Rom vorfindet, als auf das, was man dorthin mitbringt. Goethe wie Winckelmann haben zum Ausdruck gebracht, dass die physische Gestalt Roms nichts für sie bedeutet hätte, wenn sie sich nicht vorher zu der Anschauung durchgerungen hätten, für die Rom ihnen Symbol wurde. Welche Gestalt also auch Rom annehmen mag, sein Wesen als Wallfahrtsstätte deutscher Geistesgeschichte kann nicht geschmälert werden. Mit Recht ist der 150. Jahrestag von Goethes Einzug in Rom feierlich von der deutschen Gemeinde Roms begangen worden.
Am Goethedenkmal in der Villa Borghese wurden am Vormittag von deutscher und italienischer Seite Kränze niedergelegt; am Nachmittag feierte man in der Villa Sciarra in den Räumen des italienischen Instituts für deutsche Studien, wo, umrahmt von einem schönen Vortrag Goethescher Lieder (darunter Mignon in der Vertonung von Beethoven, Schumann, Schubert, Spontini) durch Alba Anzelotti, Lothar Müthel auf das lebendigste die römischen Elegien vorlas. Den Höhepunkt bildete am Abend die Aufführung der ´“Iphigenie“´ durch das Dresdner Staatstheater mit Antonia Dietrich in der Hauptrolle. Wenn das Klassische, Normative, Formvolle dem Romantischen, Ungebundenen, Elementaren im Wesen Goethes – und des deutschen Menschen überhaupt – immer wieder einander gegenübergestellt wird, so ist man sich in Rom bewusst, auf einem dieser ´“Pole“´ zu weilen; wenn man dann jenes Werk sieht, das am stärksten die Hinwendung zum ersten Pol bedeutet, wie befriedigend ist es dann, gewahr zu werden, daß diese Teilung nichts ist als eine Abstraktion, eine Denkhilfe, und daß in diesem nach Rom eilenden Goethe die Sehnsucht nach der klassischen, gültigen Form im ewigen Marmor nichts von innerer Wärme ertötet. Iphigenie ist keine kalte Marmorgestalt wie aus dem Meißel Canovas, sondern vom Blut des Lebens, voll echter Menschlichkeit; Menschentum ist das Wort, das über dem Tempelheiligtum dieser Priesterin steht. Keine klassizistische Blässe kränkelt sie an. Aber es soll hier nicht versucht werden, zu sagen, was von Berufenen längst über Iphigenie gesagt wurde; sondern nur, wie beglückt man in Rom über die Vergegenwärtigung des großen Deutschen in seinem beim Jubiläum seiner italienischen Reise die Iphigenie in einer früheren Gestalt mit auf den Weg und goß sie in ruhiger Arbeit in die neue Form, in der an die Stelle der freien Rede das gebundene Versmaß trat. So war sie das Werk, das den echtesten Anspruch darauf hatte, an diesem Tage in Rom aufgeführt zu werden. Das Stück kam wieder über die Alpen und zeigte sich auf den Brettern des römischen Theaters in der vollen Würde seiner klassischen Gestalt; es ließ alle Zuhörer auf das innigste den Strom deutschen Lebensblutes fühlen, aus dem diese Gestalten leben. Die offiziellen Vertreter des Deutschtums in Rom waren vollzählig unter den Zuhörern erschienen; besonders aber darf man sich freuen über die zahlreichen, die sich ohne besondere Aufforderung und Einladung eingefunden hatten, und über die italienischen Zuhörer (offizielle wie inoffizielle). Die italienische Kritik hat das Theaterereignis sehr ausführlich besprochen und der Dresdner Aufführung die große Anerkennung gezollt, die sie verdient. Man darf hoffen, in diesem Ereignis ein gutes Auspizium zu sehen für das vereinbarte deutsch-italienische Kulturabkommen, das uns noch mehr deutsche Aufführungen in Rom bescheren möge. Sie würden einen besonders schönen Mittelpunkt bilden, um den sich das Deutschtum Roms festlich versammeln könnte, das jetzt durch die Auslandsorganisation der Partei zum ersten Mal in allen seinen Gruppen und Schichten zusammengeführt worden ist und am Tage vor dem Goethe-Jubiläum sein neues Heim eröffnet hat – unweit der Porta del Popolo. Nikolas Benckiser.“
„Ein neu aufgefundenes Porträt. Nach mehr als hundertjähriger Goetheforschung, an der die ganze Welt teilgenommen hat, kommt die Nachricht von der Aufdeckung eines neuen, bisher unbekannten Goethebildnisses, das uns das Antlitz des Frankfurter Bürgersohns in einer von den jedermann geläufigen Porträts abweichenden Fassung zeigt. Die erste Frage, die sich gegenüber einer solchen Entdeckung erhebt, wird sein: Wie war es möglich, dass ein Bildnis Goethes so lange der Forschung verborgen bleiben konnte? Welche besonderen Umstände waren es, die uns ein so bedeutungsvolles menschliches Dokument vorenthalten haben? Man wird solche Fragen nicht nur in den Kreisen der Goetheforscher und Goethefreunde stellen. Sie werden wahrscheinlich auch von solchen aufgeworfen werden, die kein persönliches Verhältnis mit Goethe verbindet. Auch gegenüber der Echtheit des Bildes wird man einige Zweifel geltend zu machen wissen.
Allein diese Zweifel erscheinen unberechtigt. Nach Ansicht aller Goethekenner, denen das neue Bildnis vorgelegt wurde, handelt es sich hier wirklich um eine künstlerische Darstellung des dreissigjährigen Dichters, der hier in Miniaturmalerei erscheint. In dem von Ernst Beutler, dem Direktor des Frankfurter Goethemuseums herausgegebenen ´“Goethekalender auf das Jahr 1937“´werden die näheren Umstände der Auffindung des Miniaturporträts mitgeteilt und wird das Bildnis neben demjenigen von Goethes Vater erstmalig reproduziert. Der Stuttgarter Kunsthistoriker Prof. Hans Hildebrandt ist der Auffinder des Porträts. Im Rahmen eines knappen Vortrags, den er auf dem kürzlich gehaltenen 14. Internationalen Kunstgeschichtlichen Kongreß in Bern gehalten hat, wurde die Tatsache bekanntgegeben, und diesem Vortrage verdankt auch die genannte Veröffentlichung ihre Wissenschaft. Die Frage, warum das Porträt so lange verborgen bleiben konnte, löst sich dahin, dass es seit seiner Entstehung bis heute niemals der Oeffentlichkeit zugänglich gemacht worden war.
Das Bildnis fand sich unter den von Johann Caspar Lavater, dem mit Goethe eng befreundeten Zürcher Prediger, Forscher und Schriftsteller gesammelten Originalen physiognomischer Studien, deren Zahl sehr groß war. Der Hauptteil dieser Sammlung befindet sich heute in Wien, wo er längst der Forschung zugänglich gemacht ist. Einen kleineren Teil aber verkaufte Lavater im Jahre 1798 an die Kaiserin Maria Feodorowna, Gemahlin Pauls I. von Russland, mit der Johann Caspar Briefe tauschte, wie mit vielen hochgestellten Persönlichkeiten seiner Zeit, Diese Briefe, dichterisch-theologischen Inhalts, wurden im Jahre 1858 von der Kaiserlichen Bibliothek in Petersburg als ´“Beitrag zur deutschen Literatur aus Russland“´ veröffentlicht, als Geschenk an die Universität Jena zu ihrem 300jährigen Bestehen. Aus der den Briefen vorangestellten Einleitung erfahren wir, dass Lavater im August 1798 eine Kiste ´“mit einigen Tableaux und vielen Handrissen und Kupferstichen“´ nach Petersburg schickte und zugleich weitere Sendungen ankündigte.
Nach seinem Wunsche sollten diese ´“Physiognomischen Fragmente“´ einige Zimmer im Zarenpalaste zieren.
Indessen ist dieser Wunsch Lavaters nicht erfüllt worden. Seit dem Tode Maria Feodorownas mag keine Hand an diese Bildnisse gerührt haben. Seit 1930 wurde die Sammlung von der Sowjetregierung nach Zürich verkauft, und zwar an einen Nachkommen von Lavaters Bruder Diethelm, Herrn Maß-Laufer. Wie Hans Hildebrandt, dem die Besichtigung des wertvollen Gutes gestattet wurde, mitteilt, handelt es sich um rund tausend Originale in wohlgeordnetem Zustande. Unter sechs Aquarellminiaturen, die unter der Rubrik ´“Männliches Alter“´ vereinigt waren, fand er das kleine Bildnis von Goethe in einem Ausmaße von nur 9,7 zu 7,7 Zentimetern: ´“Rötlich gesunde Gesichtsfarbe, kastanienbraunes Haar, weiße Halsbinde, grüner Rock, dunkelgrauer Grund. Alles Leben strömt von den tief-, fast schwarzbraunen und dennoch strahlenden Augen aus“´- so charakterisiert Hildebrandt das Bildnis. Alle anderen Bilder des Blattes, auf dem die sechs vereinigt sind, tragen Anmerkungen von Lavaters Hand, nur die Goethe-Miniatur, die in die obere Mitte des Blattes gerückt wurde, ist frei von solchen Anmerkungen des Physiognomikers.
Wer ist der Maler des Bildes? Eine bestimmte Antwort wird auf diese Frage nicht zu geben sein, wenigstens vorerst nicht. Das mögen die Goetheforscher entscheiden. Hildebrandt zieht in seiner ersten Mitteilung alle Möglichkeiten und Vergleiche mit anderen Goethebildnissen heran. Er kommt zu dem Schluß, dass das Porträt,, eine Profilansicht, nur in den siebziger oder in der ersten Hälfte der achtziger Jahre gemalt sein kann. Die größte Aehnlichkeit besitzt die Miniatur aber mit einer Bleistiftzeichnung, die Georg Melchior Kraus für die Allgemeine Deutsche Bibliothek als Vorlage für einen Stich Chodowieckis im Jahre 1776 herstellte. Vor allem könnte die ähnliche Haartracht der beiden Bilder, wallende, im Nacken zusammengehaltene Locken anstatt des Zopfes, die Annahme rechtfertigen, dass Kraus der Maler ist. Doch möchte Hildebrandt diese Vermutung mit aller Voraussicht ausgesprochen wissen.
Weitere Nachforschungen und intensivere Vergleichung werden hier vielleicht noch den gewünschten Aufschluß bringen. Einstweilen ist festzustellen, dass wir um eine Goetheporträt reicher geworden sind, und zwar um ei solches, das eine auffallende Aehnlichkeit mit dem Dichter-Vater aufweist, einer Tuschzeichnung für die gleichen Physiognomischen Fragmente Lavaters, denen unsere Miniatur entstammt. Das Vater-Porträt befindet sich seit langem im Frankfurter Goethemuseum. Fritz Buhl.“ |
|